Neuigkeiten vom norwegischen Obersten Gerichtshof: Verletzung von Informationspflichten führt zu Anspruch auf Vertragsanpassung gemäß § 36 des norwegischen Vertragsgesetzes

Neues vom norwegischen Obersten Gerichtshof: Verletzung von Informationspflichten führt zu Anspruch auf Vertragsanpassung nach § 36 des norwegischen Vertragsgesetzes.

Der norwegische Oberste Gerichtshof (norwegisch: "Høyesterett") hat am 12. Februar eine viel beachtete Entscheidung im Bereich des Vertragsrechts getroffen. 

Kern der Entscheidung und des zugrundeliegenden Rechtsstreits ist § 36 des norwegischen Vertragsgesetzes (norwegisch: "Avtaleloven", im Folgenden: „avtl.“), der die Aufhebung oder Änderung eines Vertrages ermöglicht, soweit dessen Durchsetzung unangemessen oder treuwidrig wäre. § 36 avtl. lässt sich durch den Bezug auf die Treuwidrigkeit am ehesten mit dem Anspruch auf Vertragsanpassung nach § 242 BGB vergleichen, kann aber auch in Fällen Anwendung finden, die in Deutschland unter die Regelung der gestörten Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB fallen würden. 

Im zugrundeliegenden Sachverhalt versuchten vier ehemalige Gründungsgesellschafter eines Technologieunternehmens erfolgreich, einen mit demn zwei übrigen Gründungsgesellschaftern geschlossenen Vertrag nach § 36 avtl. aufheben zu lassen. Mit diesem Vertrag, so stellte es sich im Nachhinein heraus, hatten die vier klagenden Gesellschafter ihre Anteile an dem gemeinsam gegründeten Unternehmen deutlich unter Wert verkauft, was den beiden verbliebenen Gesellschaftern bewusst war. 

Der Oberste Gerichtshof kam in seiner Entscheidung zu dem Schluss, dass die verbliebenen Mitgründer eine gesteigerte vertragliche Treuepflicht gehabt hätten und dieser zu Trotz Informationen zurückgehalten hätten. Daher bewertete der Oberste Gerichtshof den Vertrag als missbräuchlich und hob ihn als Konsequenz dessen auf.  

Die Entscheidung ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Auslegung des § 36 avtl. und wird präjudiziell für die weitere Anwendung des § 36 avtl. sein, insbesondere im Hinblick auf Vertragsverhältnisse zwischen Gesellschaftern. 

Hintergrund des Rechtsstreits 

Im Oktober 2009 gründeten drei Freunde das Unternehmen Red Rock Solutions AS. Eine AS (norwegisch: Aksjeselskap) ist eine mit der deutschen GmbH vergleichbare Kapitalgesellschaft. Einige Jahre später, in den Jahren 2011/2012, gründeten drei weitereandere Gründer das Unternehmen Red Rock Marine AS. Beide Unternehmen boten Dienstleistungen im Bereich Hebe- und Handhabungssysteme für Schiffe und Boote an. 

Zu einem sSpäteren Zeitpunkt einigten sich die Eigentümer der beiden Gesellschaften darauf, eine gemeinsame Muttergesellschaft, Red Rock AS, zu gründen.  

AnschließendSpäter beschlossen die Gesellschafter, die Muttergesellschaft zu verkaufen. Die Struktur mit sechs Eigentümern wurde jedoch als Hindernis für einen solchen Verkauf angesehen. Daher vereinbarten sie im Juni 2017 einen Kaufvertrag, bei dem zwei der Gesellschafter (die späteren Beklagten) die Anteile der anderen vier (die späteren Kläger) für etwa 41 Millionen NOK kauften. Der Unternehmenswert wurde zu diesem Zeitpunkt auf ca. 90 Millionen NOK geschätzt. 

Da den beiden verbleibenden Gesellschaftern die vereinbarte Summe nicht zur Verfügung stand und bis zu einem etwaigen Verkauf der Red Rock AS nicht zur Verfügung stehen würde, wurden die Anteile in Form eines Verkäuferdarlehens übertragen. Die Parteien schlossen einen Darlehensvertrag ab, der den späteren Beklagten ein tilgungsfreies Darlehen für den Kaufpreis mit einem jährlichen Zinssatz von 4 % gewährte. Die Anteilsübertragung wurde am 5. Januar 2018 durchgeführt. 

Der geplante Verkauf von Red Rock AS scheiterte jedoch, und das Verkäuferdarlehen wurde nicht zurückgezahlt. 

Erst einige Jahre später, nämlich im Frühjahr 2021, gab es einen neuen Interessenten für eine Übernahme der Red Rock AS. Um die Investition zu ermöglichen, schlossen die verbleibenden Gesellschafter mit ihren ehemaligen Mitgesellschaftern eine Vergleichsvereinbarung, wonach die verkaufenden Gesellschafter statt der 2013 vereinbarten Summe nur noch ca. 13 Millionen NOK erhalten sollten. Das Unternehmen wurde zu diesem Zeitpunkt auf etwa 30 Millionen NOK bewertet. Die ihre Anteile verkaufenden Gesellschafter verzichteten dabei auch auf Zinsansprüche aus dem Verkäuferdarlehen. 

Kurz nach Abschluss der Vergleichsvereinbarung kaufte der Interessent alle Anteile an der Red Rock AS. Der Kaufpreis betrug 180 Millionen NOK. Die ehemaligen Gesellschafter erfuhren von diesem Kaufpreis erst als die Jahresabschlüsse für 2021 in 2022im Jahr 2022 öffentlich zugänglich wurden. 

Daraufhin erhoben die ausgekauften Gesellschafter eine Klage gegen ihre plötzlich wohlhabenden Mitgesellschafter und machten geltend, dass die Vergleichsvereinbarung gemäß § 36 avtl. Aaufgehoben werden müsste. Sie argumentierten, dass die Beklagten illoyal gehandelt und Informationen zurückgehalten hätten, und dies ausschlaggebend dafür war, dass sie die Vergleichsvereinbarung eingegangen sind, mit derer sie auf einen großen Teil ihrer Ansprüche gegen die Beklagten verzichtet loren hatten.  

Die Kläger verloren trotz der „erheblichen Zweifel“ des Bezirksgerichts, gewannen jedoch vor dem Berufungsgericht. Daraufhin musste sich der Oberste Gerichtshof mit der Streitfrage befassen. 

Die Bewertung des Obersten Gerichtshofs 

Der Oberste Gerichtshof kam im Einklang mit der Entscheidung des Berufungsgerichts einstimmig zu dem Ergebnis, dass die Vergleichsvereinbarung gemäß § 36 avtl. in Gänze unwirksam ist. An ihrer Stelle tritt der zwischen den Parteien im Juni 2017 geschlossene Kaufvertrag.  

In seiner Bewertung legte der Oberste Gerichtshof Wert auf die folgenden Punkte: 

1. Der Hintergrund der Vergleichsvereinbarung führte dazu, dass die Beklagten eine verschärfte vertragliche Treuepflicht hatten: 

  • Die sechs Gründer hatten gemeinsam ein Unternehmen gegründet, was mit viel Arbeit, und außergewöhnlicher Anstrengung über einen langen Zeitraum verbunden war. 
  • Die sechs Gründer verfolgten das gemeinsame Ziel, alle Aktien an einen externen Investor zu verkaufen, damit sie für ihren Anteil an der gemeinsamen Anstrengung der vergangenen Jahre entlohnt werden würden. 
  • Das Verkäuferdarlehen und die Stundung der Rückzahlungsansprüche wurden vereinbart, um den Käufern Zeit zu geben, den Wert von Red Rock AS zu realisieren. 

2. Das Ungleichgewicht zwischen den Parteien in Bezug auf Informationen und die Möglichkeit, den Inhalt des Vertrags zu beeinflussen 

  • Die Kläger sind aus dem Vorstand von Red Rock AS ausgetreten, als sie ihre Aktien verkauften, und hatten keinen Einblick in oder Einfluss auf die Verhandlungen mit dem Interessenten. 
  • Die Informationsasymmetrie führte dazu, dass die Beklagten besondere Möglichkeiten hatten, die Vertragsbedingungen zu ihren Gunsten zu gestalten. 
  • Die Kläger wurden nicht über den konkreten Vorschlag des Interessenten informiert, den die Beklagten kannten. 
  • Die Kläger verstanden es so, dass Red Rock AS wesentlich weniger wert war als derwas des Transaktionsvorschlags vermuten ließ. zugrunde lag

3. Das gut begründete Vertrauen der Kläger darauf, dass die Beklagten im Interesse aller verhandelten, führt dazu, dass fehlende Untersuchungen der Kläger die Beklagten nicht von ihrer Informationspflicht befreien 

Kernaussagen des Urteils 

Das Urteil veranschaulicht, was unter einer verschärften vertraglichen Treuepflicht in Vertragsverhältnissen zu verstehen ist, und stellt ein Beispiel dafür dar, dass § 36 des norwegischen Vertragsgesetzes auch in kommerziellen Vertragsverhältnissen zur Überprüfung von Verträgen verwendet werden kann. Weiterhin zeigt das Urteil, dass es keine automatische Annahme gibt, dass geschäftliche Parteien als „professionelle Investoren“ angesehen werden. 

Der Oberste Gerichtshof stellt auch klar, dass es Spielraum für „Naivität“ gibt, wenn ein gut begründetes Vertrauen in die andere Vertragspartei besteht. Fehlende Untersuchungen der Verkäufer in einer solchen Situation befreien die Käufer nicht von ihrer Informationspflicht. 

Das Urteil kann hier im norwegischen Original gelesen werden. 

Bei Fragen zu diesem Thema oder anderen Anfragen können Sie sich gerne an unseren German Desk wenden.